Gastbeitrag von Dr. Florian Ploberger, B. Ac., MA
Dr. med. univ. Florian Ploberger ist praktizierender Arzt und international anerkannter Experte für Traditionelle Chinesische Medizin (TCM). In diesem Gastbeitrag gewährt er spannende Einblicke in die Kräutertherapie mit westlichen Kräutern nach TCM-Kriterien.
Die Phytotherapie (Pflanzenheilkunde) ist in China die bedeutendste und am häufigsten angewandte Therapieform der TCM. Heutzutage werden in China bis zu drei Viertel der Patienten mit der TCM-Arzneimitteltherapie behandelt. Die Materia Medica der TCM umfasst laut einigen Quellentexten über 40 000 Rezepturen – und mehrere Tausend Einzelkräuter, von denen ungefähr fünfhundert in Österreich verwendet werden können.
Natürlich war es zu Beginn die Akupunktur, die sich im Westen durchsetzen konnte, doch nun steht vielfach die Phytotherapie mit chinesischen Heilkräutern im Mittelpunkt des Interesses.
In China hat sich in den letzten 2500 Jahren ein einfaches System der Kräuterbeschreibung entwickelt. Es werden fünf Arzneimitteleigenschaften unterschieden:
Primärqualitäten:
Die fünf Geschmacksrichtungen sind: sauer, bitter, süß, scharf und salzig.
Im Huangdi neijing (ein klassisches Werk der Traditionellen Chinesischen Medizin, wörtlich übersetzt lautet der Titel „Der Klassiker des Gelben Kaisers“) wird ein weiterer Geschmack angeführt: der neutrale bzw. fade Geschmack. Er bezieht sich vorwiegend auf Pilze wie zum Beispiel Poria Cocos (chinesisch „Fuling“), die leicht diuretisch wirken.
Die Geschmacksrichtung beschreibt die Grundwirkung eines Krauts. Wichtig ist zu wissen, dass manchen Kräutern mehrere Geschmäcker zugeordnet werden.
Der saure Geschmack wirkt zusammenziehend, einschnürend und zusammenhaltend. Saure Kräuter werden deshalb zum Festigen des Nieren-Qi oder zum Bewahren der Säfte bei Inkontinenz (Unfähigkeit, den Harn zu halten) verwendet.
Kontraindiziert ist der saure Geschmack bei Qi-Stagnation, Muskelschwund oder Magen-Feuer.
Der bittere Geschmack wirkt abführend, purgierend, austrocknend, beruhigend, entzündungshemmend, blutungshemmend (bei Blut-Hitze), absenkend, toxische Hitze ausleitend und durchblutungsfördernd. Bittere Kräuter werden bei eitrigen Entzündungen, Insomnia (Schlaflosigkeit), Hepatitis (Entzündung der Leber), Herpes zoster (Gürtelrose), Ekzemen (Entzündungen der Haut), Obstipation (Verstopfung), PMS (Prämenstruelles Syndrom: Schmerzen vor der Monatsblutung) und Dysmenorrhoe (Schmerzen zur Zeit der Monatsblutung) verwendet.
Tipp: Empfehlenswert ist es, bittere Kräuter am Vormittag einzunehmen. Diese Zeit entspricht dem Holzelement. Abends würden sie die Milz zu sehr verletzen, der Patient muss möglicherweise in der Nacht Wasser lassen.
Interessant ist, dass in unserer westlichen Kräutermedizintradition bittere Kräuter als Toniks verwendet wurden, während in China davon ausgegangen wird, dass die bitteren Kräuter entgiftend, entzündungshemmend und ableitend sind. Als Erklärung könnte dienen, dass die bitteren Kräuter in geringer Dosierung (1–3 Gramm) das Qi in Bewegung bringen, außerdem eliminieren sie Feuchtigkeit aus dem Körper, wodurch sich der Patient besser fühlt.
Kontraindiziert ist der bittere Geschmack bei Jinye (Körpersäfte) Mangel, Blut-Mangel und Gewichtsverlust.
Der süße Geschmack wirkt befeuchtend, stärkend, entspannend, beruhigend, harmonisierend und kühlend. Süße Kräuter werden bei Schwächezuständen, Säftemangel (wie zum Beispiel trockener Haut und Husten), bei Spasmen (Krämpfe), Schmerzen und hohem Fieber verwendet.
Kontraindiziert ist der süße Geschmack bei Adipositas (Übergewicht), Schleim- und Feuchtigkeits-Erkrankungen.
Der scharfe Geschmack wirkt zerstreuend, wärmend, bahnbrechend. Er wird verwendet bei Infekten, Myomen, Rheuma usw. Wichtig ist zu wissen, dass es nur wenige scharf-kühlende Kräuter – wie zum Beispiel Pfefferminze oder Lindenblüten – gibt.
Kontraindiziert ist der scharfe Geschmack bei Spasmen (Krämpfe), Qi-Mangel, Sehstörungen und Vertigo (Drehschwindel).
Der salzige Geschmack nährt das Yin, senkt das Yang ab und wirkt aufweichend. Salzige Kräuter werden verwendet bei Vertigo (Drehschwindel), Konjunctivitis (Bindehautentzündung), Tinnitus (Ohrensausen), Obstipation (Verstopfung), im Wechsel, bei Lymphknotenschwellungen, Knoten in der Schilddrüse, Hitzewallungen … Für das Verständnis ist Folgendes wichtig: Manche behaupten, der salzige Geschmack wirke austrocknend; andere wiederum behaupten, er wirke befeuchtend. Beide haben recht! Man muss sich nur die Wirkung von Glaubersalz vor Augen halten. Im Darm wirkt Glaubersalz befeuchtend und trocknet damit den restlichen Körper.
Kontraindiziert ist der salzige Geschmack bei Hypertonie (hoher Blutdruck).
Der fade Geschmack wirkt beruhigend, entschleimend auf die Herzkanäle, harntreibend und regt die Wasserzirkulation an. Fade Kräuter werden verwendet bei Ödemen (Wasseransammlungen), Aszites (Flüssigkeitsansammlung im Bauchraum), Verwirrung und Depressionen.
Jeder Geschmack kann sich auch negativ auf den Körper auswirken.
So steht im Huangdi neijing:
Zu viel saurer Geschmack verletzt Leber und Sehnen.
Zu viel bitterer Geschmack verletzt Herz und Blut.
Zu viel süßer Geschmack verletzt Milz und Fleisch.
Zu viel scharfer Geschmack verletzt Lunge und Haut.
Zu viel salziger Geschmack verletzt Nieren und Knochen.
Die Temperaturauswirkung der Kräuter wird – wie auch die der Nahrungsmittel – einerseits nach dem subjektiven Empfinden, andererseits nach objektiven Kriterien wie Atemfrequenz, Pulsdiagnostik oder einer Hyperämie in gewissen Körperstellen beurteilt.
Ursprünglich wurden vier thermische Wirkungen unterschieden: heiß, warm, kühl und kalt. Dazu kam mit der Zeit noch der Begriff der thermisch neutralen Wirkungen. Später wurden zusätzliche Zwischenstufen wie zum Beispiel leicht warm, sehr heiß usw. eingeführt.
Vereinfacht gesagt gilt, dass man bei Hitzeerkrankungen kühlende oder kalte Kräuter verschreiben sollte, bei Kälteerkrankungen warme.
Bei Hitzeerkrankungen ist dem Patienten heiß, er verträgt Hitze nicht, schwitzt stark, der Harn ist konzentriert und übelriechend, die Zunge ist rot und der Puls schnell (1:6 oder mehr).
Bei Kälteerkrankungen friert der Patient, er liebt die Wärme, der Harn ist hell, der Stuhl weich, die Zunge blass, der Zungenbelag weiß und der Puls langsam (1:4 oder weniger).
Dies bedeutet jedoch nicht, dass es ein Fehler wäre, Kräuter verschiedener Temperaturwirkung miteinander zu kombinieren. Speziell bei komplizierten Krankheitsbildern ist es oft notwendig, Kräuter verschiedener Temperaturwirkungen zusammenzumischen. So kann ein Patient zum Beispiel oben Hitze und unten Kälte haben. Ein weiteres Beispiel wäre eine Hitzeerkrankung an der Oberfläche. Hier werden kühlende Kräuter in Kombination mit scharf-warmen Kräutern wie zum Beispiel Zimtzweigen verwendet, die eine aufsteigende und zerstreuende Wirkung haben und damit die Rezeptur an die Oberfläche des Körpers bringen.
Heiße Kräuter wie zum Beispiel Pfeffer, Ingwer und Zimt wirken erwärmend, schmerzstillend und helfen beim Ausbruch von Infektionserkrankungen.
Warme Kräuter wie zum Beispiel Kardamom und Mandarinenschalen tonisieren, wirken aromatisch und karminativ.
Kühle Kräuter vertreiben Wind-Hitze, nähren das Yin und wirken beruhigend.
Kalte Kräuter wie zum Beispiel Enzianwurzel, Rhabarberwurzel, Löwenzahn oder Tausendguldenkraut leiten die Hitze aus, wirken abführend, absenkend, entgiftend und entzündungshemmend.
Noch ein Wort zu den bitter-kalten Kräutern: Bei dieser Gruppe von Kräutern haben wir im Westen ein vielfältiges Angebot: Enzianwurzel, Rhabarberwurzel, Löwenzahn und Tausendguldenkraut sind nur eine sehr kleine Auswahl davon. Bei Erkrankungen mit Feuchte-Hitze kann man wunderbar auf die chinesischen bitter-kalten Kräuter verzichten und sie durch westliche Kräuter ersetzen.
Außerdem kann man unsere Kräuter noch weiter aufteilen in Kräuter, die auf den Mittleren Erwärmer (kurz ME, umfasst Funktionen von Magen und Milz) wirken:
Wie bei den chinesischen Kräutern gibt es auch bei uns giftige Kräuter, die nur von erfahrenen Therapeuten verwendet werden sollten.
Es werden vier Wirkrichtungen beschrieben:
Dieses System hat sich in China erst im Lauf der Zeit entwickelt und wurde um das Jahr 1000 vollendet.
Es werden bei Kräutern also nicht nur Geschmack, thermische Wirkung und Wirkrichtung beschrieben, sondern auch deren Leitbahnbezug. Die Leitbahnen (jingmai) stehen hier stellvertretend für die inneren Organe (zangfu). Manche Kräuter haben einen sehr starken Bezug zu einem Organ.
Unter „Botenkräutern“ versteht man Kräuter, die die Fähigkeit haben, die Wirkung anderer Kräuter zu einem bestimmten inneren Organ oder in eine Körperregion zu leiten. Tatsächlich haben Kräuter nicht nur einen Bezug zu einem bestimmten Organ, können also nicht nur für ein bestimmtes Organ verwendet werden, sondern immer zu Syndromen, da die Chinesische Medizin Funktionskreise, die sich auf weitere Elemente auswirken, behandelt.
Dr. Florian Ploberger, B. Ac., MA
Autor:
Dr. Florian Ploberger, B. Ac., MA
TCM-Arzt, Univ.-Lektor, Tibetologe, Fachbuchautor, Präsident der Österreichischen Ausbildungsgesellschaft für Traditionelle Chinesische Medizin (ÖAGTCM).
www.florianploberger.com